Historie

Die Pulverfabrik Liebenau – Tarnname „Anlage Karl“ – und das steinerne Lager Steyerberg

1938 begann im Auftrag des Oberkommandos des Heeres (OKH) die Planung und 1939 der Bau der Pulverfabrik Liebenau (Eibia GmbH, ein Tochterunternehmen der Firma Wolff & Co.) auf einer Fläche von 12 Quadratkilometern. Zum Werk gehörten:

– das steinerne Lager Steyerberg [Steinlager Liebenau II] (1) (heute ist dort die Gemeinschaftssiedlung des Lebensgarten Steyerberg e. V.), das ca. 1 km entfernte und stacheldrahtumzäunte „Ostarbeiterlager“ aus Holzbaracken für zwangsverpflichtete, sogenannte Ostarbeiter/innen und sowjetische Kriegsgefangene (2), zuvor Lager des „Reichsarbeitsdienstes“ (heute Standort der Biogasanlage), sowie „Reeser Lager“, ein weiteres, 1,5 km entferntes Holzbarackenlager für polnische und französische Zwangsarbeiter/innen (3) (heute Standort des Chemiewerks Oxxynova)

– das steinerne Lager Liebenau [Steinlager Liebenau I] (4) (heute die Waldsiedlung Liebenau), das steinerne „Ledigenheim“ (5) (heute der Landsitz Eickhof), das große und frei zugängliche Barackenlager, in dem hauptsächlich arbeitsverpflichtete Italiener wohnten (6) und das „Arbeitserziehungslager Liebenau“ (7), ein Straflager der Gestapo Hannover, heute der Standort der Schulanlage Liebenau.

Zu Beginn der Bauarbeiten waren 3.000 bis 4.000 Bauarbeiter im ständigen Arbeitseinsatz. Starke Einheiten des „Reichsarbeitsdienstes“ sowie über 70 Vertragsfirmen übernahmen den Aufbau der Pulverfabrik.

Ab Juli 1941 begann die Produktion verschiedener Schießpulver und Pulvergrundstoffe bei zeitgleichem Weiterbau und Ausweitung des Werkes.

Von 1939 bis 1945 arbeiteten schätzungsweise 20.000 Menschen in der Pulverfabrik – wenige deutsche Arbeitskräfte, dafür sehr viele Fremd- und Zwangsarbeiter/innen aus der Ukraine, Polen, Italien, den Niederlanden und die Häftlinge des „Arbeitserziehungslagers“ Liebenau (7).
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion (21. Juni 1941) wurden viele, oft schon sehr erschöpfte sowjetische Kriegsgefangene in der Pulverfabrik eingesetzt.

Die schlechtesten Lebens- und Arbeitsbedingungen hatten von Anfang an die Osteuropäer/innen und die sowjetischen Kriegsgefangenen. Bis 1945 starben über 2.000 dieser Frauen und Männer an Unterernährung und Krankheiten auf Grund der schlechten Lebensbedingungen sowie durch Unfälle im Werk.

Im „Arbeitserziehungslager“ der Gestapo kamen zwischen 1940 bis 1943 mindestens 250 Männer ums Leben – durch Erkrankungen, Misshandlungen und Hinrichtungen. Für diese Opfer gibt es eine Gedenktafel mit weiteren Informationen und den „Friedensplatz“ am ehemaligen Lagerstandort, der heutigen Schulanlage in Liebenau (7).

Die osteuropäischen Todesopfer sind auf der Kriegsgräberstätte Hesterberg begraben (8), wenige Kilometer von hier entfernt.

Im steinernen Lager Steyerberg wohnten hauptsächlich deutsche Arbeitskräfte mit ihren Familien, weibliche Arbeitskräfte, einige Angehörige des „Reichsarbeitsdienstes“, Dienstverpflichtete und vor allem westeuropäische Fremd- und Zwangsarbeiter.

In der Pulverfabrik Liebenau wurden von 1941 bis 1945 insgesamt 41.000 Tonnen Pulver produziert. Damit gehörte die Pulverfabrik Liebenau mit den Schwesterwerken in Dörverden und Walsrode zu den größeren Pulverproduzenten im „Deutschen Reich“.

Am 10. April 1945 besetzten englische Truppen das unzerstörte Werk. Sie nutzten es als Hauptmunitionsdepot und Sammelstelle für Beutemunition. Die Maschinen wurden demontiert und gingen in zwölf verschiedene Länder.

Seit 1951 wird das Werksgelände von der Industrieverwaltungsgesellschaft IVG verwaltet, im Nationalsozialismus firmierte sie unter dem Namen „Montan GmbH“. Das Werksgelände ist bis heute kompletteingezäunt und nicht zugänglich.

1994 wurde die Munitions- und Waffenproduktion, die durch unterschiedliche Firmen weiter betrieben worden war, auf dem Werksgelände endgültig beendet.

Für weiterführende Hintergrundinformationen undBildungsmaterialien empfehlen wir die Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau e. V., der wir für die Hilfe bei der Realisierung dieser Tafel danken.

Wir gedenken mit dieser Dokumentation derer, die hier gelitten haben, und derer, die sich schuldig gemacht haben.

Karte der Pulverfabrik Liebenau und Umgebung
Diese Karte erhebt keinen Anspruch auf Vollständikeit und wurde nach bestem Wissen erstellt.
Historie
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Im Werkt Liebenau entstanden ca. 400 Gebäude unterschiedlicher Größe für verschiedene Zwecke der Pulverherstellung, hier sieht man zwei des Produktionsbereiches „Nitroglyzerin“.

Die Zeit von 1945 bis 1983

1945 Beschlagnahmung des steinernen Lagers Steyerberg (heute Lebensgarten Steyerberg) durch die britische Besatzungsmacht. Dieses Lager erfüllte in den folgenden Jahrzehnten unterschiedliche Zwecke:

Nach Kriegsende diente es als Unterkunft für ehemalige Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, die nach dem Krieg nicht mehr in ihre Heimat zurück konnten, da sie dort als Kollaborateure galten, und nun in einer Transporteinheit der englischen Besatzungsmacht Arbeit fanden.

Im Laufe des ersten Jahres der Besatzung wurde das Lager in „Helena-Lager“ umbenannt. Es gab zwei durch einen Zaun getrennte Bereiche, wobei der nördliche dem Militär zugeordnet war und der südliche von Flüchtlingen – meist aus besetzten ehemals deutschen Ostgebieten – bewohnt wurde. Da nicht alle Häuser belegt waren, erlaubte die englische Lagerleitung, dass im Zuge der Familienzusammenführung die deutschen Männer ihre Familien in das Lager holten.

Im gesamten Helena-Lager lebten ca. 300 Männer, mit Familien waren es etwa 400 Personen. Im militärischen Bereich des Helena-Lagers waren in jedem Raum eines Hauses zwei bis sechs Männer untergebracht. Hier lebten überwiegend Polen, Ukrainer, Jugoslawen, Bulgaren, Italiener und auch einige Türken.

In 12 Holzbaracken „auf dem Berg“ rund um das Helena-Lager lebten 16 Familien. Im ehemaligen Reeser-Lager standen fünf weitere Holzbaracken, in denen 15 Familien lebten. Einige dieser Baracken stammten teilweise noch aus der Kriegszeit, andere waren von Flüchtlingen erbaut worden. Auf dem Gelände des heutigen Spiel- und Fußballplatzes am Borsteler Weg standen ebenfalls zeitweise Baracken. Im Keller des Hauses am Borsteler Weg 24d befand sich anfangs ein Gemischtwarenladen, um die Bevölkerung zu versorgen.

Das dreieckige Grundstück des südlichen Teils wurde von den Flüchtlingen eingezäunt und mit Schuppen bebaut, in denen sie Kaninchen, Hühner und auch Schweine hielten. Als nach einigen Jahren angeordnet wurde, diese Fläche zu räumen, bauten die Besitzer die Hütten und Ställe ab und errichteten sie gegenüber (westlich) im Bereich der großen Eichen neu. Dort standen auch fünf, sechs Nissenhütten (halbrunde Wellblechhütten mit einer Grundfläche von 40 qm). In einer davon befand sich die sogenannte Lagerschule und in einer weiteren eine Turnhalle. Auf dem geräumten Gelände des Südteils baute man 1952/1953 ein etwas in die Erde eingelassenes Waschhaus. Wie lange es dort stand, ist nicht bekannt.

Während der Zeit der Nutzung durch die britische Armee entstand im Helena-Lager ein reges kulturelles Leben. Im großen Saal des Gemeinschaftsgebäudes fanden die unterschiedlichsten kulturellen Veranstaltungen statt, z. B. Theateraufführungen, Filmvorführungen, Tanzveranstaltungen und große Feste. Zudem wurden hier Fortbildungen, wie z. B. Sprachunterricht oder Kurzschrift sowie monatlich eine Ausstellung durchgeführt, in der einige große Firmen ihre Produkte verkauften.

Auch in anderer Hinsicht wurde man sehr aktiv. So entstand schon 1946 der sehr erfolgreiche Sportverein Reese e. V. mit unterschiedlichen sportlichen Angeboten und 1950 wurde eine Männer-Gesangsgruppe gegründet. Im großen Gebäude des Lagers gab es eine Bücherei mit Lesezimmer, für kleine Veranstaltungen wurde im Kellergeschoss ein gemütlicher Clubraum eingerichtet. Um Kranke zu betreuen, gab es ab Februar 1948 ein gut ausgerüstetes Krankenrevier mit regelmäßiger ärztlicher Betreuung.

Besonders hervorzuheben ist, dass die polnischen – überwiegend katholischen – Bewohner des Helena-Lagers in einem Nebenraum des großen Saales eine katholische Marienkapelle einrichteten. Sie wurde von allen Katholiken der Umgebung für kirchliche Feste genutzt, da es in der Umgebung zu dieser Zeit keine katholische Kirche gab. 1961 besuchte ein Abgesandter des Papstes, ein polnischer Weihbischof, die Kapelle.

1963/64 wurden die Barackenlager aufgelöst.

1977 bekam die Transport-Einheit einen neuen Standort, deshalb wurde das Helena-Lager 1978 geschlossen. Von den im südlichen Teil lebenden Familien blieben jedoch einige weiterhin hier wohnen. Die Reparaturwerkstatt der Transporteinheit am Borsteler Weg blieb ungenutzt und verfiel zusehends. 1990 wurde dieses Gelände vom Flecken Steyerberg erworben, um u. a. als Bauhof des Fleckens zu fungieren.

Die IVG (Industrie-Verwertungs-Gesellschaft), ehemals Montan GmbH, versuchte nach 1978 das Helena-Lager zu verkaufen. In der Leerstandszeit entstanden an den Häusern aus unterschiedlichen Gründen sehr viele Schäden, die den Verkauf erschwerten.

1983 wurde das gesamte Gelände von der Berliner Familie Benzin erworben, um es in eine Ferienhaussiedlung umzuwandeln.

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Pförtnergebäude (Wache) 1978
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Südansicht der Siedlung 1978

  Der Lebensgarten Steyerberg – seit 1983

1945 bis Mitte der 1970er-Jahre wurde die Siedlung von der englischen Armee genutzt, nach deren Abzug verfielen die Häuser.

1983 Ursprünglich sollten von einem Makler Ferienhäuser für die damals eingeschlossenen Bewohner Berlins geschaffen werden. Dann wurde jedoch das Gelände von der Erwerbergemeinschaft Benzin gekauft und schließlich in Gänze von Christian Benzin erworben. Durch seine Vision einer Stiftung für Fantasie und Toleranz und den Einfluss durch die weltweit bekannte Findhorn-Gemeinschaft in Schottland auf ihn und den Mitgründer Christoph Hatlapa entstand eine ökologisch-spirituell ausgerichtete Gemeinschaft: der Lebensgarten Steyerberg.

1984 fanden sich Menschen zusammen, um ihre Vision einer zukunftsweisenden Gemeinschaft zu leben. Sie begannen unter widrigen Umständen die desolaten Häuser nach ökologischen Gesichtspunkten zu renovieren und den öden Ort mit neuem Leben zu füllen.

1985 Gründung des „Lebensgarten Steyerberg e. V.“ – Zum gegenwärtigen Zeitpunkt (2017) leben in den 63 Lebensgarten-Häusern und in der Umgebung etwa 100 Mitglieder mit ca. 40 Kindern.

1985 Beginn des Seminarbetriebes und der Zen-Sesshins unter provisorischen Bedingungen.

1986 Eröffnung der „Choka Zendo“ – Meditationshalle (Vogelnest-Sitzhalle) durch Oi Saidan Roshi aus Kyoto, Japan.

1986 Übersiedlung des „Permaculture Institutes of Europe“ von Berlin durch Prof. Dr. Margrit und Prof. Declan Kennedy und Gründung des „Permakultur Instituts e. V.“ (Deutschland).

1990 Gründung der „Schule für Verständigung und Mediation“.

1991 Einrichtung der ersten Solartankstelle in Niedersachsen.

1994 Der Lebensgarten Steyerberg wird zusammen mit sechs Ökodörfern von fünf Kontinenten Gründungsmitglied des Global Ecovillage Network (GEN), einem ständig wachsenden, weltweiten Netzwerk mit derzeit mehreren tausend Mitgliedsgemeinschaften.

In den folgenden Jahren Weiterentwicklung des Seminarbetriebes, der Erwachsenenbildung, der Kulturarbeit und der ökologischen Ausrichtung.

2000 Außenstelle der Expo 2000 – Durch deren Förderung erfolgte der Ausbau der großen Halle und die erneute Ausweitung des Seminarbetriebes.

2002 Gründung des „Zentrums Gewaltfreie Kommunikation Steyerberg“.

2003 Gründung von „MonNetA“ (Monetary Network Alliance) durch Prof. Dr. Margrit Kennedy zur Vermittlung von Wissen über komplementäre Geldsysteme – 2013 gemeinnützige Gesellschaftsgründung und Eröffnung einer zweiten Geschäftsstelle von „MonNetA“ in Hamburg.

2005 Gründung der Stiftung „Paradise Now“ durch Christian Benzin, einer Stiftung zur Förderung des Gemeinwohls. Überführung der in seinem Besitz befindlichen (ca. zwei Drittel) Lebensgarten-Häuser in das Stiftungsvermögen, um sicherzustellen, dass diese Häuser auch zukünftig Mitgliedern des Lebensgartens zur Verfügung stehen.

2007 Gründung der „Kulturküche“ für vielerlei Kulturveranstaltungen.

2007 Sitz des „Vereins für Achtsamkeit und Verständigung e. V.“, der auch Schirmherr des Waldkindergartens und Peacelab-Projektes ist.

2009 Gründung des „Permakulturparks am Lebensgarten (PaLS)“ durch Jean-Philippe Genetier und Prof. Declan Kennedy – 2012 Umwandlung in eine gemeinnützige GmbH.

2009 Gründung von „Selbstbestimmt Lernen e. V.“ mit Sitz im Lebensgarten, u. a. Träger der Freien Schule Mittelweser.

2012 Renovierung des Hauptgebäude-Daches und umfangreiche Neugestaltung eines großen Seminarraumes.

2015 Errichtung eines zenbuddhistischen Zentrums für die Vermittlung von Meditation und nachhaltiger Lebensführung im Rahmen des ToGenJi-Projektes von Choka Sangha e. V.

Im Laufe der Jahre gab es viele unterschiedliche Geschäftsgründungen, u. a. in den Bereichen Ökologie, Gesundheit und natürliche Heilungswege. Durch seine Bewohner/innen und viele hier stattfindende Seminare wurde der Lebensgarten zu einem Ort innovativer Ideen, der sich nach wie vor in einem steten Erneuerungsprozess befindet.

Unsere Themen sind: ressourcenorientierte ökologische Lebensweise, Kulturarbeit und Erwachsenenbildung, natürliche Heilungswege, soziale Kompetenz, konstruktive Bewältigung von Konflikten.

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Gemeinschaftsgebäude/Dorfplatz 1978
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Gemeinschaftsgebäude/Dorfplatz 2017
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Nordplatz 1978
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Nordplatz 2017